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Literatur in Vorarlberg nach dem Zweiten Weltkrieg

Das literarische Leben in Vorarlberg wurde bis in die 1970er Jahre von Namen wie Natalie Beer und Eugen Andergassen (1907–1987) dominiert, der bereits vor dem Krieg religiös inspirierte Gedichte und Theaterstücke veröffentlicht hatte und weiter als Lyriker und Erzähler publizierte. Auch die Mundartdichtung florierte mit Autoren wie Hannes Grabher (1894–1965), Otto Borger (1904–1995) oder auch Armin Diem (1903–1951) ungebrochen weiter.

Ab der Mitte der 1970er Jahre änderte sich die Situation entscheidend: War Vorarlberg bis dahin, abgesehen von einigen Glanzlichtern in Mittelalter und Barock und dem früh verstorbenen Franz Michael Felder, kaum jemals im Scheinwerferlicht der Literaturgeschichte gestanden, so bahnte sich nun eine Entwicklung an, die Vorarlberg von einer literarischen Provinz zu einem Hoffnungsgebiet der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur machte. Das zeigte sich auch darin, dass Autorinnen und Autoren aus Vorarlberg nun nicht mehr bloß regional verbreitet waren, sondern in renommierten Verlagen zu publizieren begannen (Piper, Suhrkamp, Hanser, Residenz, Diogenes, Fischer) und generell den Anschluss an die literarische Moderne fanden.

Dieser Generationen- und Paradigmenwechsel ging jedoch nicht ohne Kämpfe vor sich: 1977 publizierte der Franz-Michael-Felder-Verein den Band 'Neue Texte aus Vorarlberg: Prosa I', der heftige Kontroversen auslöste. Der Streit gipfelte darin, dass der Damülser Pfarrprovisor Reinold Simma an verschiedene Persönlichkeiten des Landes ein Schreiben verschickte, in dem er einige Publikationen der "modernen" Autoren als Pornografie beschimpfte; auch fügte er einen negativen Brief des Innsbrucker Universitätsgermanisten Eugen Thurnher an. Als Reaktion auf diese kulturpolitischen Auseinandersetzungen wurde 1982 der Vorarlberger Autorenverband gegründet; auch die Literaturabteilung des Landesstudios Vorarlberg tat viel zur Förderung der neuen Autoren. Die Mundartdichtung nahm ebenfalls eine neue Richtung: Kritische Dialektdichter wie Ulrich Gabriel, Herbert Häusle, Richard Gasser oder Inge Morscher-Dapunt schlossen an die Tradition der Wiener Gruppe an und brachten neue Themen und literarische Formen in die Mundartdichtung.

Oscar Sandner, 1927 geboren und lange Kulturreferent der Landeshauptstadt Bregenz, prägte die Phase des kulturellen und literarischen Aufbruchs entscheidend mit. Er verfasste zahlreiche Hörspiele, Essays, kunstgeschichtliche Publikationen, den Gedichtband "Strukturen in Molasse" und Theaterstücke ("Sulla gegen Sulla""); ein Roman "Das Leben ist hart in den Bergen" ist noch nicht abgeschlossen. Neben Michael Köhlmeier, der von Anfang an einer der Pioniere der Moderne in Vorarlberg war, begann Monika Helfer mit ihren Hörspielen, Erzählungen und Romanen "Eigentlich bin ich im Schnee geboren" (1977), "Die wilden Kinder" (1984), "Mulo" (1986), "Der Neffe" (1991), "Ich lieb dich überhaupt nicht mehr" (1989) sowie "Oskar und Lilli" (1994) Alltagsleben in Vorarlberg aus der Sicht von Frauen, Heranwachsenden und Kindern zu beschreiben. Ingrid Puganigg, 1947 in Kärnten geboren und seit 1962 in Vorarlberg, erregte nach dem Gedichtband "Es ist die Brombeerzeit die dunkle" (1978) mit ihrem Romandebüt "Fasnacht" (1981) Aufsehen und erhielt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Preis der Jury. Der Krimi "La Habanera" (1984) sowie die Prosabände "Laila. Eine Zwiesprache" (1988) und "Hochzeit. Ein Fall" (1992) stellen wie ihr Erstling exzentrische Paare in den Mittelpunkt, deren oft grausame Beziehungen in zum Teil surrealistisch verknappten Bildern und in einer Sprache, die den traditionellen Erzählfluss bricht, evoziert werden. Eva Schmidt (geb. 1952) brachte 1984 bei Residenz einen Band mit an Robert Walser geschulter Kurzprosa heraus ("Ein Vergleich mit dem Leben"), dem 1986 die Erzählung "Reigen" folgte. Elisabeth Wäger-Häusle, geboren 1942 und schon lange in Wien lebend, schrieb neben Hörspielen und außergewöhnlich prägnanten, kritischen Dialektgedichten auch Prosaarbeiten, die sich mit Frauen befassen, so die Bände "Anna's Häuser" (1978) und "Verhärtung der Puppenhaut" (1983) sowie die Erzählungen "Blick durch den Spiegel" (1991). Ricarda Bilgeri (geb. 1929) hat mit "Kinderlandverschickung" (1990) einen zeitkritischen ländlichen Roman aus dem Bregenzerwald verfasst, Susanne Alge (geb. 1958) veröffentlichte 1995 bei Haymon "Die Brupbacherin", eine biografische "Annäherung" an die rztin und Sozialreformerin Paulette Brupbacher. Jutta Rinner (geb. 1957) schrieb Hörspiele und den Gedichtband "Grenzland" (1991). Ihr Theaterstück "Seitenwechsel" wurde 1988 vom Theater für Vorarlberg uraufgeführt. Lina Hofstädter (geb. 1954) schrieb Kurzprosa ("Kopfzirkus", 1991), die Erzählung "Der Finder" (1989) und den Roman "Tilmanns Schweigen" (1993).
Kurt Bracharz (geb. 1947) leitet sein Literaturverständnis weniger von der deutschen als von der angelsächsischen Literatur her, wo zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur nicht unterschieden wird. So bevorzugt er einerseits Gattungen wie Kriminalromane und Kinderbücher, andererseits intellektuell anspruchsvolle Schreibweisen: Seine Kriminalromane "Pappkameraden" (1986), "Höllenengel" (1990), "Die grüne Stunde" (1993) und "Cowboy Joe" (1994) haben ihm den Ruf eingebracht, der Begründer der "Dornbirn School of Crime" zu sein; er verfasste aber auch "Esaus Sehnsucht. Ein gastrosophisches Tagebuch" (1984), "Esaus Erfüllung. Tagebuch eines zynischen Feinschmeckers" (1995) und "Ein Abendessen zu Fuß. Notizen zu Lichtenberg" (1987). Auch Jürgen Benvenuti (geb. 1963) hat mehrere Krimis publiziert, z.B. "Harter Stoff" (1994) und "Leichenschänder" (1995). Ulrike Längle (geb. 1953) verbindet in drei Erzählbänden (z.B. "Am Marterpfahl der Irokesen", 1992) und zwei Romanen ("Tynner", 1996; "Vermutungen über die Liebe in einem fremden Haus", 1998) "treffsichere Kurzangebundenheit" (M. Walser) mit satirischen Aspekten. Christian Mähr (geb. 1950) schreibt Science-Fiction-Romane wie "Fatous Staub" (1991) und erzielte 1998 mit dem Roman "Simon fliegt" einen beachtlichen literarischen Erfolg.

Wolfgang Hermann (geb. 1961) hat sich mit Prosabänden und einigen literarischen Preisen einen Namen als sprachsensibler Autor und subtiler Beobachter gemacht, z.B. "Die schöne Welt" (1988), "Die Namen die Schatten die Tage" (1991), "Paris Berlin New York" (1992) und "Schlaf in den Fugen der Stadt" (1993). Werner Grabhers (geb. 1948) experimentelles Stück "Säuberungen" wurde 1984 vom Theater für Vorarlberg mit großem Erfolg aufgeführt, seine Lyrikbände "Gefangene Freiheit" und "Landvermessung" erschienen 1975 bzw. 1995. Norbert Loacker (geb. 1939), Verfasser der utopischen Romane "Aipotu" (1980) und "Die Vertreibung der Dämonen" (1984), hat sich mit "Idealismus. Analyse einer Verhaltensstörung" (1993) dem Essay zugewandt. Wolfgang Linders (geb. 1961) sprachexperimenteller Band "Steinschlag auf Schlag" erschien 1983, sein Roman "Und trotzdem reifen die Brombeeren" 1999. Ingo Springenschmid (geb. 1942) verfasst ebenfalls avantgardistische Texte, u.a. "Pattstellung" (1988); in jüngerer Zeit schreibt auch Petra Nachbaur (geb. 1970) experimentelle Lyrik. Als Lyriker sind auch Norbert Mayer (geb. 1958) und Maria Schneider (geb. 1934) hervorzuheben. Gudrun Embacher (geb. 1931) hat mit "Aphrodite geht vorbei" (1999) bereits den neunten ihrer kulturkritischen Romane vorgelegt.

An jüngeren Autoren sind Arno Geiger (geb. 1968) mit seinen literarisch anspruchsvollen Romanen "Kleine Schule des Karussellfahrens" (1997) und "Irrlichterloh" (1999), Christian Futscher (geb. 1960) mit Kurzprosa, u.a. "Ein gelungener Abend" (1997), und Stephan Alfare (geb. 1966) mit Erzählungen, u.a. "Das Begräbnis" (1999), hervorgetreten.

Eine Sonderposition nehmen drei Autoren ein: der deutsch schreibende türkische Lyriker Kundeyt Surdum (geb. 1937) – dessen Lyrikband "Unter einem geliehenen Himmel" (1988) mit kraftvollen Bildern und dem Ausdruck einer stillen Trauer das Leben in zwei Kulturen beschreibt – erhielt im Jahre 1996 den Hebel-Preis; der Lyriker Joseph Kopf (1929–1979), der zwar in St. Gallen geboren wurde, aber aus Götzis stammt und für seine Gedichte, u.a. "dem kalten sternwind offen. gedichte 1954–1977" ebenfalls den Hebel-Preis erhielt, und zwar ausdrücklich als Autor aus Vorarlberg; sowie Max von Riccabona (1915–1997), dessen gewaltiges, nur teilweise veröffentlichtes sprachexperimentelles Werk "Bauelemente zur Tragikkomödie des x-fachen Doktor von Halbgreyffer oder Protokolle einer progressivsten Halbbildungsinfektion" (1980, als "poetatastrophen" 1994) ihn zu einer herausragenden Gestalt der österreichischen Avantgarde macht. 1995 erschienen seine Memoiren "Auf dem Nebengeleise", in denen es auch um seine Jahre im KZ Dachau geht, das er ebenfalls mit sprachexperimentellen Mitteln zu beschreiben trachtet.

Der mittlerweile im In- und Ausland bekannteste Autor aus Vorarlberg ist Robert Schneider (geb. 1961), dessen Roman "Schlafes Bruder", die traurige Lebens- und Liebesgeschichte des genialen Musikers Johann Elias Alder, 1992 nach einer Ablehnung durch mehr als zwanzig Verlage zu einem literarischen Bestseller ungeahnten Ausmaßes (über 1 Million verkaufte Exemplare allein im deutschsprachigen Raum) wurde und seinem Verfasser intensive Anerkennung durch Preise (u.a. Alemannischer Literaturpreis, Literaturpreis der Salzburger Osterfestspiele 1994, Prix Médicis Étranger Paris, Premio Grinzante Cavour Turin), die Verfilmung durch Josef Vilsmaier und die Vertonung als Oper durch Herbert Willi sowie Übersetzungen in 24 Sprachen eingebracht hat. Mit den Romanen "Die Luftgängerin" (1998), der von der Kritik heftig gebeutelt wurde, und "Die Unberührten" (2000) weitete Schneider sein Romanprojekt zur "Rheintalischen Trilogie" aus. Der Autor hat mit "Dreck" (1993), einem Monolog über Ausländerfeindlichkeit, auch als Dramatiker große Erfolge erzielt: Das Stück wurde am Thalia-Theater Hamburg uraufgeführt und war das meistgespielte Theaterstück der Saison 1993/94, während "Die Komödie vom deutschen Heimweh", 1999 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, weniger erfolgreich war.  U.L.

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Bild: Kundeyt Surdum
Kundeyt Surdum
Bild: Kurt Bracharz
Kurt Bracharz
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Monika Helfer
Bild: Robert Schneider beim Signieren seines Erfolgsbuches `Schlafes Bruder´ nach einer Lesung im Franz-Michael-Felder-Archiv
Robert Schneider beim Signieren seines Erfolgsbuches `Schlafes Bruder´ nach einer Lesung im Franz-Michael-Felder-Archiv
Bild: Max Riccabona beim Schreiben, 1970
Max Riccabona beim Schreiben, 1970