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Schweizer Anschlussbewegung 1918/19 und Schwabenkapitel 1919/20

Mit dem Ende der Habsburgermonarchie im November 1918 war in Österreich eine jahrhundertelange staatliche Ordnung zerbrochen. Der ungarisch- und der slawischsprachige Teil des Vielvölkerstaates drängte in die nationalstaatliche Unabhängigkeit. Das politische Denken der deutschen Sprachgruppe war an geografischen und nationalen Großräumen orientiert, kleinstaatliche Lösungen waren nicht Teil ihres staatstheoretischen Diskurses. Die Lebensfähigkeit eines Kleinstaates Österreich wurde insbesondere auf Grund wirtschaftlicher Einwände bezweifelt. Folglich erklärte sich die am 12. November 1918 gegründete Republik Deutsch-Österreich als Teil der deutschen Republik und strebte einen Anschluss an den nördlichen Nachbarn an. Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg 1921 ergaben eine nahezu hundertprozentige Zustimmung für einen derartigen Schritt. Die Vorarlberger Bevölkerung hingegen hatte sich in einer Volksabstimmung am 15. Mai 1919 mit rund 80% für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Schweizer Bundesregierung über einen möglichen Beitritt des Landes zur Eidgenossenschaft ausgesprochen. Nur in Bludenz, Bolgenach und Hittisau war eine Mehrheit der Stimmbürger gegen derartige Verhandlungen, der Rest der rund 100 Vorarlberger Gemeinden wies bis zu 90% Befürworter auf.

Die Propaganda für einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz war im November 1918 von dem Lustenauer Lehrer Ferdinand Riedmann begonnen worden, der bis zum Januar 1919 Unterschriften von rund der Hälfte der Vorarlberger Stimmberechtigten für die Einleitung einer entsprechenden Volksabstimmung sammelte. Allerdings ließ er nur jene Vorarlberger und Vorarlbergerinnen zur Unterschriftenleistung zu, die auch im Lande heimatberechtigt bzw. geboren waren. Auf Schweizer Seite gründete der St. Galler Kantonsrat und Arzt Ulrich Vetsch 1919 ein Aktionskomitee Pro-Vorarlberg, welches den Beitritt Vorarlbergs zur Eidgenossenschaft propagierte. Von November 1919 bis Juni 1920 bemühte es sich, die notwendigen 50.000 Unterschriften für eine Verfassungsinitiative zu sammeln. Dies scheiterte aber mit 29.132 Unterschriften deutlich. Besonders in den Grenzorten Buchs und St. Margrethen war die Ablehnung eines Vorarlberger Beitrittes stark ausgeprägt.

Wie die Befürworter hatten auch die Gegner in der Schweiz wirtschaftliche Gründe ins Treffen geführt. hnlich verlief die Argumentation der Gegner in Vorarlberg. Im April 1919 war von Funktionären der Deutschnationalen und der Sozialdemokratischen Partei der Verein Vorarlberger Schwabenkapitel gegründet worden. Er forderte einen politischen und wirtschaftlichen Anschluss des Landes an Deutschland. Gemeinsam mit den schwäbischen Landesteilen in Baden, Bayern und Württemberg sollte Vorarlberg ein neues 'Bundesland Schwaben' bilden. Auf deutscher Seite war für die propagandistische Verbreitung dieser Idee bereits im Januar 1919 ein Verein Schwabenkapitel gegründet worden. Die Motivation der Sozialdemokraten für diese Forderung war ideologisch begründet – sie erhofften sich durch den Beitritt eine Weiterführung der sozialistischen Revolution, die 1918/19 in Deutschland eine reale politische Alternative war. Die Motivation der Deutschnationalen war wirtschaftlich und ideologisch. Zum einen war für sie die österreichische Bevölkerung eine deutsche, die daher in einem einzigen deutschen Nationalstaat zusammengeschlossen werden musste. Zum anderen war besonders die Vorarlberger Industrie-Unternehmerschaft, aus der sich das Gros der deutschnationalen Anhänger rekrutierte, an einem Zugang zum großen deutschen Absatzmarkt interessiert, da ihr jener der Habsburgermonarchie im Herbst 1918 verloren gegangen war.

Die Friedensverträge von St. Germain mit Österreich und Versailles mit Deutschland im Jahre 1919 bereiteten jedoch all diesen Separationsbestrebungen ein Ende. Die alliierten Sieger des Ersten Weltkrieges verboten einen Anschluss Österreichs an Deutschland oder andere Staaten und wünschten eine selbstständige demokratische Republik Österreich. Diese wurde mit der Bundesverfassung von 1920 dann auch errichtet. Die Ideen der Anschlusspropagandisten wirkten jedoch Jahrzehnte weiter, sowohl für die Schweizer als auch für die deutsche Option. Im Juli 1920 wurde ein Wirtschaftsverband Schwaben-Vorarlberg gegründet, der nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Regionen intensivieren wollte. Nach der Okkupation Österreichs durch NS-Deutschland im März 1938 und der vorhersehbaren Auflösung des Landes Vorarlberg bemühten sich süddeutsche und vorarlbergische Nationalsozialisten um die Errichtung eines NS-Gaues Schwaben, dem Vorarlberg zugeschlagen werden sollte. Nach der Befreiung von der NS-Herrschaft im Jahre 1945 griffen einige katholisch-konservative Proponenten aus Bregenz und Konstanz mit Unterstützung der französischen Militärregierung die Idee eines alemannisch-schwäbischen Staates auf. Schließlich reflektierte die föderalistische Pro-Vorarlberg-Bewegung der späten 1970er und frühen 1980er Jahre auf Inhalte der Schweizer Anschlussbewegung der Jahre 1918–1921. W.W.

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Bild: Werbepostkarte für den Anschluss Österreichs an Deutschland
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Bild: Ferdinand Riedmann, hier als junger Volksschullehrer in Alberschwende, war der bekannteste Agitator für einen Anschluss an die Schweiz.
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Bild: Aufruf der Anschlussbefürtworter
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Bild: Karikatur aus dem `Nebelspalter´, 1919
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Bild: Abstimmungsergebnisse im Vorarlberger Tagblatt vom 14. Mai 1919
Abstimmungsergebnisse im Vorarlberger Tagblatt vom 14. Mai 1919