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Zeitgenössische Architektur in Vorarlberg

Die Architekturszene, die hohe Baukultur und das Engagement der Bauherren für hochwertige Bauwerke in Vorarlberg finden derzeit große internationale Anerkennung.

Ausgangslage

Vorarlberg war in den letzten 60 Jahren von einem bisher noch nie da gewesenen Bauboom geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zuerst die Fehlbestände auf Grund des Ausbleibens der Bautätigkeit während der beiden Weltkriege und der Zwischenkriegszeit beseitigt. Später brachte der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung eine rege Nachfrage nach Wirtschafts- und Wohngebäuden mit sich. Erst in den 1990er Jahren konnte die mengenmäßige Wohnungsnot bewältigt werden. Das rege Baugeschehen hält bis heute an.

In den Nachkriegsjahren führten die relativ geschlossenen Grenzen zur Schweiz, zu Deutschland und zu Ostösterreich dazu, dass sich die Vorarlberger fast ausschließlich mit ihrem eigenen Vorwärtskommen beschäftigten. Lediglich die Unternehmer richteten ihr Augenmerk auf den weltweiten Export ihrer Produkte. Die allgemeine wirtschaftliche Aufbruchsstimmung, eine starke ÖVP und die Strenge der katholischen Kirche prägten die Gesellschaft. "Schaffa, schaffa, Hüsle boua" war ein sehr breit getragener und auch von den Banken unterstützter Leitgedanke. Viele der Gebäude wurden in anonymer Architektur errichtet. Die etablierten Architekten richteten ihr Augenmerk verstärkt auf öffentliche Bauwerke und Großwohnanlagen. 

In den 1960er Jahren kamen die ersten Abgänger von den Hochschulen in Wien und Graz zurück. Sie fühlten sich der kulturellen Alternativszene zugehörig. Die Randspiele als Gegenbewegung zu den Bregenzer Festspielen sowie die Wäldertage als Gegenbewegung zu den Bregenzerwälder Kulturtagen führten die Künstler, Lehrer, Schüler, Grafiker, Journalisten und Planer immer wieder zusammen. Die neue Strömung fand ihren nachhaltigsten und erfolgreichsten Ausdruck in der Architektur. In diesen Jahren entstand jene Energie, die die jüngste baukulturelle Bewegung Vorarlbergs zu europaweiter Größe trug. Erinnerungen an die Leistungen der Bregenzerwälder Barockbaumeister sowie die starken, eigenständigen regionalen Baukulturen mit dem Rheintalhaus, dem Walserhaus und dem Bregenzerwälderhaus lassen Bezüge erahnen.

Erste Phase

Zu Beginn der 1960er Jahre traten – unter der treibenden und konstruktiven Kraft von Hans Purin – Jakob Albrecht und Gunther Wratzfeld, wie Purin Studenten von Hochschulprofessor Roland Rainer, sowie Leopold Kaufmann und der Zimmermann Rudolf Wäger in das Vorarlberger Baugeschehen ein. Mit den Ansätzen von Roland Rainer, das ebenerdige Wohnen und den verdichteten Flachbau betreffend, sowie dank seiner Auseinandersetzung mit der Tradition des anonymen Wohnbaus konnten sie die brachliegenden Bauaufgaben und die Wohnbauprobleme des Landes bearbeiten. 

Sie trafen auf eine Bauherrenschaft aus der angesprochenen Alternativszene mit einem Verständnis für neues, qualitätsvolles Bauen. Bewusst wurde im gemeinsamen Schaffen auf die regionale Kultur eingegangen; ehrliche, in der Formensprache einfache und qualitätsvolle Lösungen wurden entwickelt. Die Räume mussten kostenbewusst die Anforderungen der Bauherren erfüllen und dabei schonend die Materialien aus lokalen Ressourcen verwenden. Große Kenntnisse in der Renovierung und Revitalisierung alter Objekte wie des Bregenzerwälderhauses sowie die Nähe zum Holzhandwerk unterstützten die Umsetzung eines neuen Bauens. Auch ohne Abstützung durch eine eigene Universität wurden im gegenseitigen Lernen von Planern, Behörden, Bauherren und Handwerkern viele Fürsprecher für die moderne Architektur gewonnen.
Als der Architekturkritiker Friedrich Achleitner Mitte der 1960er Jahre nach Vorarlberg kam, hatte er den Eindruck, "in konspirative Kreise geraten zu sein".

Zweite Phase

Mit der nachrückenden Generation wuchs in den 1980er Jahren die Anzahl der Büros mit ähnlichen Werthaltungen auf mehr als 16 an (Baumschlager, Dietrich, Eberle, Gnaiger, Holzmüller, Juen, H. Kaufmann, Koch, Kuess, Larsen, Lenz, Mittersteiner, Ritsch, Spagolla, Steinmayr, Unterrainer u.a.). Diese hatten meist in den Büros der bereits erfahrenen Planer mitgearbeitet oder standen in regem Austausch mit ihnen. Der Umgang mit den Baubehörden auf Gemeindeebene erwies sich als schwierig. Die Planer und ihre Bauherren wurden jedoch im Bewilligungsverfahren von der damals neu geschaffenen Abteilung für Raumplanung unter der Leitung von Helmut Feuerstein in ihren Werthaltungen maßgeblich unterstützt. 

Das überarbeitete Baugesetz lässt Planeinreichung auch von "Nicht-Architekten" zu. So realisierten die teils sehr jungen Planer zahlreiche Siedlungen, Reihenhausanlagen, Einfamilienhäuser und Altbausanierungen. Sie waren derart erfolgreich, dass die Österreichische Architektenkammer die österreichweit für Architekten verpflichtende Ziviltechnikerprüfung sowie die hohen Kammerbeiträge einforderte bzw. die einzelnen Personen mit Berufsverbot belegen wollte. 16 betroffene Planer solidarisierten sich und schlossen sich zur "Gesellschaft Vorarlberger Baukünstler" zusammen. Die Vorarlberger Bauherrenschaft stellte sich hinter die Architekturbüros. Als der Konflikt zu eskalieren drohte, wurde der Befugnisstreit in einem Vergleich beigelegt.

Immer mehr Aufträge wurden an die Baukünstler vergeben. Maßgeblich war die Motivation der Bauherren durch den Ausbildner an der Pädagogischen Akademie in Feldkirch, Franz Bertel, der seine Schüler u.a. für die neue Architektur begeisterte. Hinzu kam, dass ab Ende der 1980er Jahre zahlreiche Architekturwettbewerbe ausgeschrieben wurden und von den Vorarlberger Planern gewonnen werden konnten. Der Architekturkritiker Otto Kapfinger sieht dies als den Wendepunkt, "an dem modernes Bauen sich von der Alternativszene zu einer offiziell und breiter anerkannten Leitkultur im Lande emanzipierte". 

Die Architekten haben in Zusammenarbeit mit den Planungsbehörden ein eigenes freiwilliges Qualitätssicherungsinstrumentarium eingeführt: den Gestaltungsbeirat auf Gemeindeebene. Heute beraten in rund einem Drittel aller Vorarlberger Gemeinden Architekten in unterschiedlicher Form den Bürgermeister oder den Bauausschuss in Bau- und Planungsangelegenheiten. Die öffentliche Debatte wurde zudem durch die wöchentliche Ausstrahlung von Roland Gnaigers Qualitätsbeurteilung aktueller Bauprojekte von 1985 bis 1992 im ORF unterstützt.

Mit der Gründung des Energieinstitutes Vorarlberg im Jahr 1985 fanden die zahlreich tätigen Kräfte des ökologischen und energiebewussten Bauens eine Heimstätte. Von dieser Institution gehen bis heute zahlreiche Impulse für die engagierte Weiterentwicklung des Bauens aus. Die höchste Dichte an Niedrigenergie- und Passivhäusern in Österreich ist nur ein Ausdruck dafür. 

Dritte Phase

Die "kritische Masse" an Architektur ist erreicht. Die zeitgenössische Architektur wird zum sichtbaren Ausdruck der allgemeinen Vorarlberger Kultur. Die Zahl der freischaffenden Architekturbüros kann mit ca. 80 beziffert werden. Die Architekten bekommen Aufträge im Ausland wie u.a. Baumschlager & Eberle oder in baufremden Bereichen wie u.a. Wolfgang Ritsch für die Mitgestaltung des Stadtbussystems von Dornbirn, sie werden an Hochschulen berufen wie u.a. Roland Gnaiger.

Mit der Gründung der "Vorarlberger Holzbaukunst" unter der Leitung von Matthias Ammann forciert das Zimmermannshandwerk sein Engagement für die Architektur. Die mehrheitlich aus Zimmermannsbetrieben bestehende Vereinigung führte parallel zu dem 1988 erstmalig verliehenen Bauherrenpreis einen Holzbaupreis ein. Bei beiden Preisen werden die Ergebnisse in einer Broschüre zusammengefasst und an die Haushalte Vorarlbergs versendet. So erhalten die Vorarlberger und potenziellen Bauherren fast jährlich einen umfassenden Vergleich der architektonischen Bauleistung in Vorarlberg. 

Im Jahr 1997 wurde das Vorarlberger Architekturinstitut (vai) als Verein gegründet. 1999 bezog es die Räumlichkeiten mit einer eigenen Ausstellungshalle in der Fachhochschule Vorarlberg. Das vai fungiert als Schnittstelle zwischen Bauherren, Planern, Behörden und bauausführenden Unternehmen und will zu einer gemeinsamen Qualitätssteigerung der Lebensraumgestaltung sowie zu einer Weiterentwicklung der Baukultur bis hin zu einer Lebensraumkultur in Vorarlberg beitragen.

Heute

Die breite Anerkennung der Vorarlberger Architektur kommt in mehreren erfolgreichen internationalen Ausstellungen von einzelnen Architekturbüros und auch über das Gesamtphänomen "Vorarlberger Bauschule" zum Ausdruck. Die Berichterstattung in den Fachmedien ist seit den 1980er Jahren gegeben, doch jetzt nimmt sie unerwartete Züge an. Mehrseitigen Berichten in Fernsehbeilagen, Reisejournalen, Gesellschafts- und Lifestyle-Magazinen folgt ein regelrechter Architekturtourismus nach Vorarlberg. Und "Vorarlberg Tourismus" nimmt sich des Themas Architektur an – Fremdenführer werden in Vorarlberger Architektur geschult, hochwertige Informationsbroschüren werden erstellt. 

Die Vorarlberger Landesregierung erkennt den Stellenwert der Architektur an und vergibt im Katalog der Wohnbauförderung Punkte für die Beiziehung eines Planers.

Resümee

Im Rückblick zeigt sich die Stärke des langsamen Wachsens der Architekturbewegung "von unten". Haben die Gründungsväter gemeinsam gegen die Baubehörden gekämpft, so hat der Befugnisstreit die 2. Generation zusammengeführt und ihren fachlichen Austausch und den gemeinsamen Auftritt gefördert. Die qualitäts- und innovationsorientierte Zusammenarbeit der Planer mit den Bauherren, Behörden und Handwerkern hat neue Entwicklungen ermöglicht, die heute allen Vorarlbergern zugute kommen. 

Die motivierende Schärfe unterschiedlicher inhaltlicher Orientierungen sowie die Sensibilität gegenüber den Entwicklungen an gesellschaftlichen Randbereichen sind – auf Grund der Breite der Architekturbewegung – der Rationalität und Schnelligkeit der Produktion gewichen. Sie können jedoch durch die anstehende Orientierung an den gesellschaftlichen Randbereichen und durch die Unterstützung der Bauherren in der Formulierung ihrer eigenen Wünsche wieder erreicht werden. M.B.

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